Nachdem ich die Blumen bezahlt hatte, ging ich weiter zu dem Lebensmittelgeschäft auf der anderen Straßenseite. Ich hatte keine Milch mehr und das Brot dürfte morgen auch hart sein.
Die Blumen legte ich in den Einkaufswagen und fuhr durch die Gänge auf der Suche nach Milch und Brot. Ich war noch nie in der Gegend gewesen, aber meine beruflichen Wege haben mich in diesen Stadtteil getrieben. Wenn ich meine beruflichen Wege sage, meine ich primär meine derzeitige Arbeitslosigkeit und meine Suche nach einer neuen Betätigung.
Vor kurzem habe ich meine Ausbildung beendet. Und dann steht man plötzlich im Leben.
Vorbei an den Puddings, an der Butter, kam ich zur Milch. Eine große Auswahl. Ich nahm die Billigste. Heute war ich gegen das Vorurteil billig ist schlecht. Beim Brot verlangte ich nur ein halbes Kilo Mischbrot. Ohne besonderen Wert auf den Preis zu legen. Die Verkäuferin gab mir das Brot im Papiersäckchen und lächelte. Ich lächelte zurück und legte das Brot zu der Milch und den gelben Blumen.
Die Menschen im Laden machten mir Angst. Sie blickten starr vor sich hin und gingen ihren Gedanken nach. Im Falle eines Feuers oder einer anderen Katastrophe würden sie zu hysterischen Egoisten werden, die sich um nichts mehr kümmern würden als um sich selbst.
Ich hatte den Gedanken irgendein Notsignal zu betätigen um diesem Spektakel zuzusehen und mir Bestätigung im Handeln der Menschen zu holen - jeder ist für sich selbst zuständig. Heute mehr denn je.
Mit meiner Einsamkeit zu leben hatte ich mittlerweile gelernt. Es begann schon hier im Laden. Ich kaufte nur Dinge, die ich benötigte und rechnete nicht mit irgendwelchen Klagen dass ich etwas vergessen oder falsch gekauft hatte. Bei der Kassa gab ich nur mein selbstverdientes Geld aus, das Auto besaß nur meinen Geruch und meine kleinen Utensilien die es zu meinem Eigentum machten und mein Schlüssel sperrte meine kleine Wohnung im Wohnhaus auf, das ich mir als zukünftige Bleibe erwählte.
Und da war ich. In meiner Wohnung. Meine Mutter wollte immer, dass ich nicht ausziehe. Sie sagte ich würde in meiner Einsamkeit ersticken, mich verlaufen und verlieren. Die Einsamkeit würde einmal mein Tod sein, sagte sie immer. Ich blieb bei ihr, weil ich sie nicht im Stich lassen wollte und nicht ständig hören wollte, dass sie Recht gehabt hatte. Denn sie hatte wohl Recht.
Mein Vater war früh gestorben und ich bin ein Einzelkind. Vermutlich spielt nichts eine Ausrede und ich habe keinen anderen Grund mich zu entschuldigen dass ich nicht leicht auf Menschen zugehen kann. Es ist nun mal meine Art. Ruhig, besinnt, egoistisch, einsam.
Meine Mutter verstarb letztes Jahr. Deshalb die neue Wohnung. Wenn ich in der Wohnung meiner Eltern - meiner Mutter - geblieben wäre, hätte mich die Einsamkeit schon früher erwischt. Die Stimme meiner Mutter und ihre Worte hätten immer von den Wänden geschrieen.
Die Einsamkeit war schon immer ein Thema. Seit ich im Kindergarten von meiner Kindergartentante als stilles, in sich gekehrtes und einzelgängerisches Kind beschrieben wurde. Meine Mutter versuchte alles um mich einzugliedern. Sie lud Kinder ein, veranstaltete Kindergeburtstagspartys. Oft sogar, wenn ich gar keinen Geburtstag hatte. Sie ging mit mir zu vielen Veranstaltungen, an denen Kinder in Gruppen geteilt wurden. Mein Vater konnte dazu nichts sagen - er war bereits gestorben.
Nichts half. Ich wurde älter und kam in die Grundschule. Hier hatte ich eine Sitznachbarin, deren Namen ich erst nach fünf Wochen erfuhr. Ich sprach nur das Nötigste mit den anderen Kindern und der Lehrerin.
Da ich nicht viel mit den Kindern sprach, hatten sie auch nichts mit mir zu tun. Doch, sie hatten mit mir zu tun. Als sie versuchten mich als Hexe im Gartenhaus der Schule zu verstecken, mich mit Springschnüren an Bäume zu fesseln oder mit Bällen abzuschießen. Ich war so lange Außenseiterin, bis Annelies (ich denke sie hieß so) der Klasse beitrat. Sie hatte zwei verschiedene Augen, ein blaues und ein braunes. Von da an war sie die Hexe und ich hatte meine Ruhe.
Meine Nachbarin, Frau Dzanic, spricht nicht sehr gut Deutsch. Ich verstehe sie kaum. Etwas besser, wenn sie mal ihr Gebiss nicht verlegt sondern in ihrem Mund hatte. Wenn wir uns gelegentlich am Gang treffen, ich gerade auf dem Weg zu einem neuen Bewerbungsgespräch bin oder von einem komme, wechseln wir ein paar Sätze. Und weil ich selten weiß von was sie spricht, ihre wässrigen Augen aber irgendwie auf Antworten warten, platzten oft meine Erinnerungen, meine Geschichten völlig unerwartet aus mir raus.
Die Küche, in moosgrün und weiß gehalten, erfüllt ihren Zweck. Ich habe keinen Kühlschrank. Aber da ich alleine lebe reicht das Fensterbrett vor der Küche von Herbst bis zum Frühjahr für die zwei, drei Joghurt und meine Milch. Im Sommer kaufe ich kleine Packungen oder verzichte ganz auf Produkte, die in der Hitze verderben.
Ein kleines Zimmer, in dem sich gerade mein Bett und ein zweitüriger Schrank ausgehen, ist mein Schlafzimmer. Viel Zeit verbringe ich hier nicht.
Einsamkeit ist etwas, aus dem man sich befreien kann, wenn man möchte. Das habe ich mir schon so oft gesagt, habe es so oft gehört, habe es verinnerlicht und predige es mir immer wieder vor. Wenn man möchte, kann man hinaus gehen. Leute ansprechen. Man kann sich mitteilen. Reden. Ich kann. Aber ich will nicht.
Als ich wieder aufblicke, die gelben Blumen entdecke, überkommt mich eine Hitzewelle und ich greife zu Stift und Papier, stecke diese zu den Blumen und stelle die Vase mitsamt Blumen und Papier auf den Gang, vor die Türe von Frau Dzanic. Ich atme tief ein, atme wieder aus und schließe hinter mir die Türe, als ich wieder in meine Wohnung zurückkkehre. Hoffentlich versteht sie die gelben Blumen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen