Freitag, 29. Januar 2010

Kreisel

Hab erbarmen.
Schlag mich nicht.
Lass mich gehen,
halte mich.
Schrei nicht so,
sieh mich nicht an.
Kümmere dich,
lasst mich nicht ran.
Du spuckst,
bist so kalt.
Stehe im Weg,
ich Riesengestalt.
Keine Worte,
nur Hass aus dir.
Deine Entschuldigung
die ich erspür.
Lass mich
noch bleiben
und weiter
leiden.

Dienstag, 12. Januar 2010

Gelbe Blumen

Ich hatte Lust auf gelbe Blumen. Warum es gerade gelbe sein mussten wusste ich nicht. Ich hatte schon lange keine Blumen mehr geschenkt bekommen, vielleicht rührte daher meine Lust. Ich habe mir zwölf Stück gekauft. Eine willkürliche Zahl.
Nachdem ich die Blumen bezahlt hatte, ging ich weiter zu dem Lebensmittelgeschäft auf der anderen Straßenseite. Ich hatte keine Milch mehr und das Brot dürfte morgen auch hart sein.
Die Blumen legte ich in den Einkaufswagen und fuhr durch die Gänge auf der Suche nach Milch und Brot. Ich war noch nie in der Gegend gewesen, aber meine beruflichen Wege haben mich in diesen Stadtteil getrieben. Wenn ich meine beruflichen Wege sage, meine ich primär meine derzeitige Arbeitslosigkeit und meine Suche nach einer neuen Betätigung.
Vor kurzem habe ich meine Ausbildung beendet. Und dann steht man plötzlich im Leben.

Vorbei an den Puddings, an der Butter, kam ich zur Milch. Eine große Auswahl. Ich nahm die Billigste. Heute war ich gegen das Vorurteil billig ist schlecht. Beim Brot verlangte ich nur ein halbes Kilo Mischbrot. Ohne besonderen Wert auf den Preis zu legen. Die Verkäuferin gab mir das Brot im Papiersäckchen und lächelte. Ich lächelte zurück und legte das Brot zu der Milch und den gelben Blumen.

Die Menschen im Laden machten mir Angst. Sie blickten starr vor sich hin und gingen ihren Gedanken nach. Im Falle eines Feuers oder einer anderen Katastrophe würden sie zu hysterischen Egoisten werden, die sich um nichts mehr kümmern würden als um sich selbst.
Ich hatte den Gedanken irgendein Notsignal zu betätigen um diesem Spektakel zuzusehen und mir Bestätigung im Handeln der Menschen zu holen - jeder ist für sich selbst zuständig. Heute mehr denn je.
Mit meiner Einsamkeit zu leben hatte ich mittlerweile gelernt. Es begann schon hier im Laden. Ich kaufte nur Dinge, die ich benötigte und rechnete nicht mit irgendwelchen Klagen dass ich etwas vergessen oder falsch gekauft hatte. Bei der Kassa gab ich nur mein selbstverdientes Geld aus, das Auto besaß nur meinen Geruch und meine kleinen Utensilien die es zu meinem Eigentum machten und mein Schlüssel sperrte meine kleine Wohnung im Wohnhaus auf, das ich mir als zukünftige Bleibe erwählte.

Und da war ich. In meiner Wohnung. Meine Mutter wollte immer, dass ich nicht ausziehe. Sie sagte ich würde in meiner Einsamkeit ersticken, mich verlaufen und verlieren. Die Einsamkeit würde einmal mein Tod sein, sagte sie immer. Ich blieb bei ihr, weil ich sie nicht im Stich lassen wollte und nicht ständig hören wollte, dass sie Recht gehabt hatte. Denn sie hatte wohl Recht.

Mein Vater war früh gestorben und ich bin ein Einzelkind. Vermutlich spielt nichts eine Ausrede und ich habe keinen anderen Grund mich zu entschuldigen dass ich nicht leicht auf Menschen zugehen kann. Es ist nun mal meine Art. Ruhig, besinnt, egoistisch, einsam.

Meine Mutter verstarb letztes Jahr. Deshalb die neue Wohnung. Wenn ich in der Wohnung meiner Eltern - meiner Mutter - geblieben wäre, hätte mich die Einsamkeit schon früher erwischt. Die Stimme meiner Mutter und ihre Worte hätten immer von den Wänden geschrieen.

Die Einsamkeit war schon immer ein Thema. Seit ich im Kindergarten von meiner Kindergartentante als stilles, in sich gekehrtes und einzelgängerisches Kind beschrieben wurde. Meine Mutter versuchte alles um mich einzugliedern. Sie lud Kinder ein, veranstaltete Kindergeburtstagspartys. Oft sogar, wenn ich gar keinen Geburtstag hatte. Sie ging mit mir zu vielen Veranstaltungen, an denen Kinder in Gruppen geteilt wurden. Mein Vater konnte dazu nichts sagen - er war bereits gestorben.

Nichts half. Ich wurde älter und kam in die Grundschule. Hier hatte ich eine Sitznachbarin, deren Namen ich erst nach fünf Wochen erfuhr. Ich sprach nur das Nötigste mit den anderen Kindern und der Lehrerin.
Da ich nicht viel mit den Kindern sprach, hatten sie auch nichts mit mir zu tun. Doch, sie hatten mit mir zu tun. Als sie versuchten mich als Hexe im Gartenhaus der Schule zu verstecken, mich mit Springschnüren an Bäume zu fesseln oder mit Bällen abzuschießen. Ich war so lange Außenseiterin, bis Annelies (ich denke sie hieß so) der Klasse beitrat. Sie hatte zwei verschiedene Augen, ein blaues und ein braunes. Von da an war sie die Hexe und ich hatte meine Ruhe.

Meine Mutter hatte aber noch nicht aufgegeben mich zu integrieren und schrieb mich bei verschiedenen Gruppen und Vereinen ein. Ich versuchte viel und konnte auch meine verschiedenen Hobbys differenzieren und herausfinden. Aber andere lernte ich nie wirklich kennen. Dramatisch war es in der Hauptschule, als ich mich in einen Jungen verliebte. Ich wollte nicht ihn, ich wollte nur seinen Körper. Ich fand sein Äußeres so hübsch, dass ich ständig hinsehen musste. Ich zeichnete ihn und schrieb Geschichten über uns, aber ich sprach nie ein Wort mit ihm. Ich habe sogar vergessen wie er hieß.

Meine Erinnerungen an meine Vergangenheit sind generell sehr spärlich. Dafür kann ich mich an die wenigen verankerten, eingebrannten Momente mit meinem ganzen Körper erinnern. Ich spüre das Lachen der anderen, ich höre die Wünsche meiner Mutter. Ich zittere und schwitze, hüpfe gelegentlich vor lachen. Aber ich lache selten.

Die einzige, der ich meine Geschichten, meine Erinnerungen erzähle, lebt in der Wohnung neben mir. Es ist eine verrunzelte, ältere Dame, die gelegentlich meine verkümmerte Grünpflanze am Gang gießt. Die Pflanze ist noch von den Vormietern, ein Rest. Mehr war von ihnen nicht mehr über und mehr als dass hier ein Paar Mitte 40 gewohnt hatte auch nicht. Ich fragte auch nie nach, goss die Pflanze wenn ich sie nicht vergaß.

Meine Nachbarin, Frau Dzanic, spricht nicht sehr gut Deutsch. Ich verstehe sie kaum. Etwas besser, wenn sie mal ihr Gebiss nicht verlegt sondern in ihrem Mund hatte. Wenn wir uns gelegentlich am Gang treffen, ich gerade auf dem Weg zu einem neuen Bewerbungsgespräch bin oder von einem komme, wechseln wir ein paar Sätze. Und weil ich selten weiß von was sie spricht, ihre wässrigen Augen aber irgendwie auf Antworten warten, platzten oft meine Erinnerungen, meine Geschichten völlig unerwartet aus mir raus.

Meine Wohnung ist nicht groß, hat aber genügend Räume. Ein Badezimmer mit WC, gleich vom kleinen Flur aus zu betreten, mit braungelben Kacheln und einem kleinen Fenster durch das vor lauter Staub kaum mehr Licht dringt. Ein paar kleine Rinnsäle sind zu erkennen. Wenn ich zu lange Dusche, mich in Gedanken und Tränen verliere und die heißen Tropfen auf mich prasseln, löst der Dampf ab und an den grauen Schleier. Dann scheint für ein paar Wochen Licht durch das Fenster.

Die Küche, in moosgrün und weiß gehalten, erfüllt ihren Zweck. Ich habe keinen Kühlschrank. Aber da ich alleine lebe reicht das Fensterbrett vor der Küche von Herbst bis zum Frühjahr für die zwei, drei Joghurt und meine Milch. Im Sommer kaufe ich kleine Packungen oder verzichte ganz auf Produkte, die in der Hitze verderben.

Ein kleines Zimmer, in dem sich gerade mein Bett und ein zweitüriger Schrank ausgehen, ist mein Schlafzimmer. Viel Zeit verbringe ich hier nicht.
Das Wohnzimmer, das ebenfalls vom Flur aus zu begehen ist, habe ich in einem hellen Blau gestrichen. Wie der Himmel im Frühjahr zwischen den Regenwolken hervorlugt.

Ich hole die einzige Vase, die in meinem Besitz ist und fülle sie mit Wasser. Dann packe ich langsam die Blumen aus, stelle sie ins Wasser und die Vase mit den Blumen auf den Wohnzimmertisch. Gelbe Blumen im blauen Raum.

Besuch habe ich selten. Eigentlich nie. Frau Dzanic verstehe ich kaum, eine Einladung würde uns beide in Verlegenheit bringen. Und sonst kenne ich kaum Menschen, über die ich mehr weiß als ihren Vor- und Nachnamen. Aber das stört mich sonst auch kaum. Doch heute, wenn ich meine Blumen so sehe, in der Vase, vor der blauen Wand, wünschte ich mir Besucher her, die mich neugierig fragen würden von wem ich diese Blumen bekommen habe. Sogar das Wasser, mit seinen Luftbläschen, die sich am Glas oder den Stielen festhalten und sich nur ganz langsam Richtung Oberfläche bewegen, verleihen dem Bild eine idyllische und beruhigende Note.

Mein Herz pocht und ich merke, wie meine Umgebung hinter einer Wand aus Tränen verschwimmt. Schnell wische ich mir mit meinem Handrücken die Tränen aus den Augen, verlangsame meinen Atem. Contenance! Ich gehe zum Fenster, öffne es hastig und atme die frische, kühle Luft ein und halte mein Gesicht dem leichten Luftstoß entgegen.

Einsamkeit ist etwas, aus dem man sich befreien kann, wenn man möchte. Das habe ich mir schon so oft gesagt, habe es so oft gehört, habe es verinnerlicht und predige es mir immer wieder vor. Wenn man möchte, kann man hinaus gehen. Leute ansprechen. Man kann sich mitteilen. Reden. Ich kann. Aber ich will nicht.

Ich merke dass mein Handrücken ganz nass ist. Langsam setze ich mich auf meinen Sessel, lege mein Gesicht in meine Hände. Lege meine Contenance in meine Hände und überlasse ihnen meine Tränen. Nur für einen kurzen Moment.

Als ich wieder aufblicke, die gelben Blumen entdecke, überkommt mich eine Hitzewelle und ich greife zu Stift und Papier, stecke diese zu den Blumen und stelle die Vase mitsamt Blumen und Papier auf den Gang, vor die Türe von Frau Dzanic. Ich atme tief ein, atme wieder aus und schließe hinter mir die Türe, als ich wieder in meine Wohnung zurückkkehre. Hoffentlich versteht sie die gelben Blumen.